Wir schaffen das

Wir schaffen das

Impulsvortrag zur Filmvorführung von „Keine Insel“ am 12. November 2019 an der Uni Bonn.

Wir schaffen das

Ich war vor kurzem auf einem Begräbnis. Das ist nichts Ungewöhnliches, Besuche auf Begräbnissen häufen sich, wenn man älter wird. Die entfernt Bekannten, die man bei dieser Gelegenheit nach langer Zeit wieder sieht, grüßt man für gewöhnlich mit den Worten: Schade, dass wir uns immer nur bei Beerdigungen sehen.
Ungeachtet dessen macht es einen großen Unterschied, wen man verabschiedet, ob es man jemand ist, der ein langes und erfülltes Leben gelebt hat, oder jemanden, der – wodurch auch immer – jäh und vielleicht viel zu früh aus dem Leben gerissen wurde. Es macht einen großen Unterschied dabei, wie man selbst den Verlust wahrnimmt, und wie man sich den Angehörigen gegenüber verhält. 

Was aber auch immer der Grund für den Tod war, die Trauergemeinde – egal, ob sie groß oder klein ist – versammelt sich, um ein Mitglied der Gesellschaft zu verabschieden und den Angehörigen Anteilnahme und Beistand zu bekunden. Es ist ein Akt höchster Privatheit und gleichzeitig größter Gemeinschaft und damit Öffentlichkeit. 

So wie der Tod zum Leben gehört, war und ist das Ritual der Bestattung seit jeher ein zwingender Bestandteil jeder Kultur dieser Welt.

Der Film

Den Film, den sie eben gesehen haben, habe ich 2013 gedreht. Mich hatte die Katastrophe vom 3. Oktober 2013 genauso geschockt, wie viele andere in Europa. Der Grund, den Film zu drehen, war jedoch ein anderer. Zwei Wochen nach der Katastrophe fand ein EU Gipfel der Staats- und Regierungschefs statt, bei dem man beschloss, das Thema nicht auf die Tagesordnung zu setzen, weil man, so die offizielle Begründung, bei der Europawahl 2014 einen Rechtsruck befürchtete.

In den letzten sechs Jahren hat sich so gut wie nichts geändert und wir stehen dort, wo wir schon 2013 waren, wo wir 2004 waren oder schon 1999. Das ist angesichts des Umstandes, dass Migration und Flucht die zentralen politischen Themen der letzten Jahre waren, doch überaus bemerkenswert.

In welch dramatischem Umfang aber die Staats- und Regierungschefs, jeder für sich alleine, vor allem aber als Gruppe im europäischen Rat Fehler gemacht haben, wird nun im Nahen Osten und Nordafrika sichtbar.

Festung Europa

Um einen Asylantrag in einem europäischen Land stellen zu können, muss die betreffende Person zuerst illegal in die Europäische Union einreisen, sich somit zuerst selbst zu einem Kriminellen machen, bevor sie um Schutz bitten darf. Das bedeutet in den Augen der europäischen Gesetzgebung im Klartext, dass jeder, der Schutz sucht, automatisch ein Krimineller sein muss – und es auch ist, weil‘s ja anders gar nicht geht. Dieses Paradoxon nennt man heute kurz „Festung Europa“.

Bis ins Jahr 2000 kamen beispielsweise kaum Migranten und Flüchtlinge nach Malta, und wenn, dann reisten sie mit dem Flugzeug an. Nach den besagten Änderungen der Einreisebestimmungen in die Europäische Union stieg die Zahl der Migranten und Flüchtlinge von Jahr zu Jahr konstant an, außerdem kam natürlich kein einziger mehr mit dem Flugzeug, weil es nicht mehr möglich war, bedrohte man doch gleichzeitig mit der Abschaffung des Botschaftsvisums die Fluglinien mit enorm hohen Strafen, sollten sie Personen ohne entsprechendes, aber eben nicht mehr erhältliches Visum transportieren. So verlagerten sich die Reisen aufs Wasser, sie wurden „illegal“ und damit begann das große Sterben.

Schengen

Flüchtlinge, die Malta erreichen, Sie wissen das, müssen aufgrund des Schengenabkommens in Malta bleiben. Daraus resultiert nicht nur für die Betroffenen, dass sie in diesem Land mehr oder weniger gefangen sind, sondern auch für das Land selbst, dass dieses allein für diese Menschen zuständig ist. Die Forderung nach einer Änderung des Dublin Systems eint die südeuropäischen Staaten parteiübergreifend und wurde bereits vom Sozialdemokraten Renzi genauso gestellt, wie von seinen rechtspopulistischen Nachfolgern Conte und Salvini.

Die europäischen Nationalstaaten haben alle nicht nur ganz unterschiedliche Asylverfahren, sondern auch unterschiedlichste Standards in der Versorgung von Asylwerbern. Wer von Ihnen würde eine Asylantrag in Ungarn stellen, wo die Chance, Asyl zu erhalten – verglichen mit Österreich oder Deutschland – bei nicht einmal 10% liegt? Wer von Ihnen würde in Ungarn einen Asylantrag in dem Wissen stellen, dass er auf eine vollkommen unbestimmte Zeit in menschenunwürdigen Lagern ohne ausreichend Nahrung und ohne entsprechende medizinische Versorgung eingesperrt sein wird? Dieser Vorwurf ist kein Gerücht, sondern Bestandteil einer Klage gegen die ungarische Regierung, welche die EU Kommission im Juli dieses Jahres beim Europäischen Gerichtshof eingebracht hat. 

Aber es sind nicht nur rechtspopulistische Regierungen, die fragwürdig agieren. Italiens Regierungskoalition mit Salvinis Lega Nord ist vor kurzem gescheitert. Die Sozialdemokraten haben ihren Platz eingenommen. Das Thema hat sich kurzfristig beruhigt. Man begann eine Allianz der Willigen für eine gerechte Verteilung der anlandenden Flüchtlinge zu suchen. Einstweilen haben die NGOs ihren Rettungsbetrieb wieder aufgenommen. Jüngst wurde die »Alan Kurdi« von der Libyschen Küstenwache während eines Rettungseinsatzes beschoßen. Das ist ein klassisches Kriegsverbrechen. Mit Waffen, die aus Europa stammen, werden europäische Seenotretter beschoßen.

Welchen Effekt hatte dieser Vorfall? Nicht etwa, dass die EU die Kooperation mit der Libyschen Küstenwache einstellt oder zumindest einschränkt, nicht einmal zu einem offiziellen Protest reicht es. Im Gegenteil: In Zukunft müssen Rettungseinsätze von NGOs von Libyen vorher genehmigt werden, und die Libysche Küstenwache, die bekanntermaßen Bestandteil der libyschen Schleppermafia ist, erhält noch weitreichendere Kompetenzen. Von einem Staat, der nicht einmal ein solcher ist. 

Libyen

Wir Europäer haben den sogenannten Arabischen Frühling bejubelt, und ich nehme mich selbst dabei gar nicht aus. Dieser Arabische Frühling ist blutig gescheitert. Zurückgeblieben sind ein vollkommen zerstörtes Syrien, in dem Assad mächtiger ist, als je zuvor, ein Ägypten, das wieder unter einer Militärdiktatur steht, und vor allen Dingen ein Libyen in totalem Chaos.

Auf libyschem Territorium agieren bekanntlich der Islamische Staat, ungefähr 40 verschiedene Banden, General Haftar im Osten und die sogenannte international anerkannte Regierung in Tripolis, die aber heute nicht einmal mehr jenes Zehntel des Landes, dass sie vor 2-3 Jahren noch verwalten durfte, unter Kontrolle hat. Längst hat der Bürgerkrieg die Hauptstadt Tripolis erreicht, zudem herrscht ein unverhohlener Rassismus gegenüber Schwarzafrikanern. Sie kennen die CNN Berichte, die uns Sklavenmärkte zeigen. Die Anzahl der Toten, die wir in der Wüste von Libyen vermuten müssen, ist deutlich höher als jene derer, die im Mittelmeer ertrunken sind. 

Was in den letzten 20 Jahren in Libyen passiert ist, wird die Geschichte als Genozid bezeichnen, der mit den größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichgesetzt und an dem den europäischen Nationalstaaten eine wesentliche Mitschuld zugeschrieben werden wird. Was zur Stunde in Libyen und Syrien passiert, wird vermutlich als Endpunkt der Nachkriegsweltordnung gesehen werden.
Es macht mir Angst, dass wir in Libyen längst nicht mehr gemeinschaftliche europäische Interessen vertreten. 

Besonders beachtenswert finde ich aber das militärische Engagement der Türkei, die offenbar mit Putins Einverständnis osmanische Phantasien auslebt. Aber auch die ehemaligen Kolonialmächte Italien, Frankreich und Großbritannien agieren auf eigene Faust mit verdeckten Militäroperationen und Söldnern – wie auch die USA und Russland. Erwähnenswert in unserem Zusammenhang ist auch China, das neben vielen anderen Aktivitäten in Afrika auch jene überdimensionalen Schlauchboote minderer Qualität an die libyschen Schlepper liefert, die wir von vielen Fotos und Videos der Seenotretter kennen. 

Schleppermafia

2014 wurde die italienische Rettungsmission »Mare Nostrum«, welche Italien nach der Katastrophe von Lampedusa eingerichtet hatte und bei der die Italiener von der EU allein gelassen wurden, durch die gemeinsamen Militäroperationen »Triton« und »Sophia« ersetzt, deren erklärtes Ziel es war, die Boote zu versenken, damit sie nicht wieder verwendet werden konnten. Das hat man auch sehr konsequent umgesetzt. Die Wirkung blieb aber aus, statt der Festrumpfboote wurden und werden bis heute billige chinesische Einwegdinghies verwendet.

Auf der einen Seite wird also der Nachschub an Dinghies aufrechterhalten, während auf der anderen Seite Waffenlieferungen an die libysche Küstenwache das Ziel verfolgen, die Flüchtlinge vom Meer zurück nach Libyen zu „pushen“. Dieser Kreislauf dient nicht dazu, den Schleppern das Handwerk zu legen, sondern bildet die Geschäftsgrundlage der Menschenhändler. 

Von der libyschen Küstenwache aufgenommen zu werden bedeutet, zurück in ein Internierungslager gebracht zu werden, aus dem sich der Betroffene dann erneut, meist sogar von denselben Personen freikaufen muss – mit Geld, Sklavenarbeit oder Prostitution. Auf diese Art und Weise können Flüchtlinge und Migranten x-beliebig oft abgezockt werden.

Männer und Frauen

Sie alle kennen die Bilder der überfüllten Schlauchboote, in denen hauptsächlich junge Männer sitzen. Junge, starke Männer sind es deshalb, weil es alle anderen nämlich nicht bis dorthin schaffen. Das so stattfindende Ausleseverfahren erinnert mich an die Paradigmen der Eugenik im beginnenden 20. Jahrhunderts, welche die Grundlage der nationalsozialistischen Rassenlehre bildete.

Wenn neben den jungen Männern jemand in den chinesischen Billigbooten Platz nehmen darf, dann sind es hochschwangere Frauen oder solche mit ganz kleinen Kindern. Jene jungen Mädchen aus Afrika, die nicht bereits schwanger sind, tauchen dann auf den Bunga-Bunga Partys der superreichen Hautevolee eines Silvio Berlusconi auf, jenes Berlusconi, dessen Rückkehr ins Europäische Parlament im diesem Jahr, 2019, mit Standing Ovations seiner Parteifamilie, der Europäischen Volkspartei, akklamiert wurde.

Sklaverei

Italien ist aber kein Einzelfall und es braucht auch keinen Silvio Berlusconi für Ausbeutung, Prostitution und Misshandlung. 

Ich habe auf einer meiner Reisen ein Jahr zuvor, also 2012, in einem Hafen auf Kreta eine wunderschöne, große Segelyacht gesehen. Ihr Besitzer war ein griechischer Hotelier aus Kreta. Das Schiff stand gerade an Land und wurde restauriert. Von Pakistanis, die auch unter einer Plane an Deck des Schiffes schliefen – und nicht im Inneren, das genug komfortablen Platz geboten hätte. Dass diese Pakistanis nicht angemeldet gearbeitet haben, ist Ihnen klar, und dadurch zum Profit eines Einzelnen der griechischen Wirtschaft, dem griechischen Staat und der griechischen Bevölkerung Schaden zugefügt wurde, ist neben der Ausbeutung der Arbeiter ein Aspekt, der gern verdrängt wird. 

Auf Malta war ich 2013 bei einer gutbürgerlichen Familie zu Gast, die mir erzählte, dass das Land unter der Last der Flüchtlinge zugrunde gehen würden, da diese allen auf der Tasche liegen und selbst keine Steuern zahlen würden. Im selben Gespräch, 10 Minuten später, bewunderte ich ihren Garten. Viel Arbeit sei es, diesen zu pflegen, sagten sie, und gaben unumwunden zu, dass sie sich dafür Hilfe von Flüchtlingen holen würden, die vor den Lagern stünden und sowieso nichts zu tun hätten. Ich fragte, was sie diesen Hilfsarbeitern zahlen würden. Sie sagten 5 Euro. Pro Stunde ergänzte ich. Nein, lachten sie, als hätte ich einen Witz gemacht, pro Tag. Als ich nachfragte, ob sie für die so erbrachte Arbeit Steuern oder Sozialabgaben an den maltesischen Staat abliefern würden, war die Stimmung dann endgültig im Keller.

Im Sommer 2015 machte ich einen Film über das Integrationhaus in Wien, eine nichtstaatliche Einrichtung, die während des Jugoslawien Kriegs in den 1990er Jahren gegründet wurde und sich auf die Betreuung traumatisierter Flüchtlinge spezialisiert hat. Im Zuge dessen führte ich ein Gespräch mit einer damals 16jährigen Syrerin, die zuerst mit ihrer Familie in die Türkei geflüchtet war, wo sie nicht zur Schule gehen durfte, sondern 7 Tage die Woche zwischen 12 und 14 Stunden in einem Restaurant in Istanbul – natürlich schwarz – arbeiten musste. Bei ihrer Flucht aus der Türkei wurde die Familie getrennt, und das junge Mädchen war auf sich allein gestellt. In Ungarn wurde sie aufgegriffen und interniert, doch es gelang ihr, aus dem Lager zu fliehen, und sie reiste im Kofferraum eines PKW, den sie mit fünf erwachsenen Männern teilen musste, nach Österreich.

Sie kam ins Erstaufnahmelager Traiskirchen, das zu dem Zeitpunkt bereits haltlos überfüllt war. Dort verweigerte man ihr die Nahrungsaufnahme nach Einbruch der Dunkelheit. Es war Ramadan. Die Reise aus der Türkei nach Österreich hat Unsummen gekostet, die in die Taschen europäischer Schlepper floßen. Die junge Frau musste ihnen auch ihre Dokumente übergeben, mehrere Wochen Strapazen und Gewaltmärsche auf sich nehmen, sie musste auf ihre Würde verzichten und was ihr darüber hinaus widerfahren war, darüber wollte sie nicht sprechen. 

2015 kostete ein Flug von Istanbul nach Wien 152 Euro.

Cap Anamour

Anfang des Jahres 2015 – also noch vor dem denkwürdigen Sommer – waren es zwei Frachtschiffe, die scheinbar führerlos auf die europäische Küste zusteuerten und auf keinen Funkkontakt antworteten. Die »Ezadeen« kam aus Famagusta und die »Blue Sky M« aus der Türkei. Die italienische Küstenwache musste die Schiffe entern und brachte sie in den süditalienischen Hafen Gallipoli. Der für Migration zuständige EU Kommissar Avramopoulos teilte der Presse mit, dass die Schiffe seeuntauglich und ihre Frachträume voller illegaler Einwanderer gewesen wären. Er bezeichnete den Vorgang als »eine neue Qualität des Menschenhandels«.

Das ARD Magazin Panorama hat den Fall dieser „Geisterschiffe“ recherchiert. Ich zitiere von der Webseite der Sendung, die am 19.2.2015 um 21:45 ausgestrahlt wurde.

Zitat: »Es handelt sich um die „Blue Sky M“, die mehr als 750 überwiegend syrische Kriegsflüchtlinge nach Europa brachte. Das Ergebnis: die Geschichte war ganz anders als von Frontex dargestellt. Die Besatzung hat das Schiff nicht im Stich gelassen. Es bestand nie die Gefahr, dass die „Blue Sky M“ gegen die italienische Küste prallt. Im übrigen war das Schiff ohne Einschränkungen seetauglich. Das bestätigt der ermittelnde italienische Staatsanwalt im apulischen Lecce.«

Die Informationen, die nicht nur der EU-Kommissar, sondern auch andere Politiker weitergegeben hatten, waren also vollinhaltlich falsch. »Panorama« fand heraus, dass diese Informationen von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex kamen.

Weder Frontex, noch Avramopoulos, noch ein anderes Mitglied der Kommission, des Rates oder des Parlamentes haben diese Falschinformation jemals revidiert, infrage gestellt, angeklagt, oder sich für deren Verbreitung entschuldigt.

»Panorama« war meines Wissens nach das einzige deutschsprachige Medium, das darüber berichtet hatte.

Elf Jahr zuvor, 2004, war es die „Cap Anamour“ der gleichnamigen deutschen NGO, die unter dem Kapitän Stefan Schmidt und dem ersten Offizier Elias Bierdel eigentlich auf dem Weg nach Asien war, als sie tatsächlich zufällig in der Straße von Sizilien ca. 35 Flüchtlinge an Bord nahm, die in Seenot geraten waren. Die Cap Anamour wurde wochenlang am Meer festgehalten, es gab keinen einzigen europäischen Mittelmeerhafen, der ihr die Einfahrt gewährt hätte – weder in Italien, noch in Frankreich, Spanien oder Griechenland.

Die Vorräte und das Wasser an Bord wurden nach drei Wochen knapp, der Zustand der Flüchtlinge verschlechterte sich, und Schmidt und Bierdel waren dazu gezwungen, zu handeln. Entgegen den Anweisungen der italienischen Küstenwache brachten sie die „Cap Anamour“ in den Hafen von Porto Empedocle auf Sizilien. Die Flüchtlinge wurden registriert und in Lager gebracht, Schmidt und Bierdel wurden verhaftet und wegen Schlepperei vor ein italienisches Gericht gestellt. 

Das ist genau dieselbe Geschichte, die wir im Juni des heurigen Jahres mit Carola Rackete erlebt haben, die als Kapitänin der Seawatch 3 in genau derselben Situation genau dasselbe getan hat. Die Reaktion der italienischen Behörden unter der damaligen rechtspopulistischen Regierung war ebenfalls genau dieselbe, wie 15 Jahre zuvor, als Italien von Berlusconi regiert wurde.

Der Prozess gegen Schmidt und Bierdel dauerte übrigens fünf Jahre und endete 2009 mit zwei Freisprüchen, allerdings erst nach intensiven diplomatischen Interventionen.

Legale Einreisen

Das Interessante an beiden Geschichten ist, dass die Rettung durch die Hilfsorganisationen ein großes mediales, politisches und juristisches Interesse hervorrief, während in beiden Fällen zeitgleich laufend Boote mit Flüchtlingen anlandeten, denen man aber weiter keine öffentliche Beachtung schenkte.

Flüchtlinge, die von einer NGO gerettet und nach Europa gebracht werden, reisen legal ein. Sie müssen registriert werden, sie haben ein Gesicht, sie haben einen Namen, sie haben einen Ursprung, ein Schicksal, eine Geschichte – sie sind Menschen. Es ist die einzige Art der legalen Einreise, die heute noch möglich ist. Wer aber legal eingereist und registriert wird, ist auch Teil unseres Rechtsstaates und kann nicht mehr nach Belieben ausgebeutet oder versklavt werden.

Politische Kurzschlüße

Eine aktive Asyl- und Migrationspolitik, beispielsweise durch Resettlement, wird durch die irrationale Weigerung der Nationalstaaten, gemeinsame Standards bei Unterbringung und Asylverfahren so wie eine Quote bei der Verteilung einzuführen und somit selbst zu bestimmen, ob und wo welcher Flüchtling in Europa aufgenommen wird, unmöglich gemacht. In einigen europäischen Ländern beobachten wir dramatische Rückgänge bei der Bevölkerung, die Menschen wandern ab, Kinder kann sich kaum einer leisten, eine Abwärtsspirale. Unser oberstes Integrationsziel ist aber, dass Flüchtlinge Deutsch lernen, anstatt dass sie die Sprache jenes Landes erlernen, in dem sie sich mit ihren jeweiligen Fähigkeiten, Interessen und Begabungen in eine europäische Gesellschaft einbringen und somit integrieren.

Wir reden dabei auf der europäischen Ebene über eine Dimension an Flüchtlingen und Migranten, die im globalen Kontext genauso wie in der Relation zu unserer Gesamtbevölkerung vollkommen unbedeutend ist. Es ist nämlich keineswegs so, dass alle nach Europa wollen. Von den knapp 70 Millionen Flüchtlingen weltweit, kommen ein paar Tausend nach Europa. Über 90% bleiben nach Möglichkeit in der unmittelbaren Nähe ihrer Heimat, um so bald als möglich heimzukehren. Mehr als die Hälfte dieser 70 Millionen sind übrigens Minderjährige, Kinder, deren Zukunft bereits vorbei ist, ehe sie begonnen hat.

Der unbekannte Tote

Der Tod des unbekannten Migranten ist auf seinem Grabstein am Friedhof von Lampedusa mit dem Jahr 2000 datiert. Als die Leichen der Katastrophe vom Oktober 2013 am Festland aufgebahrt worden waren, waren es neben Giusi Nicolini einige italienische Politiker, die sich am Andenken der Verstorbenen beteiligt hatten. Der Papst war nach Lampedusa gereist und hatte dort eine Messe gelesen. Man hatte sich die Mühe gemacht, die Angehörigen, so weit das möglich war, ausfindig zu machen. Bei einigen wenigen der bald folgenden Katastrophen waren dann sogar Politiker aus Brüssel bei der Aufbahrung dabei. 

Trauerfeiern werden schon lange keine mehr abgehalten, die Politiker sind ganz weit weg vom Geschehen, es ist nicht mehr opportun, menschliches Verhalten zu zeigen. Angehörige werden schon lang nicht mehr ausfindig gemacht, einzig der Papst ermahnt seine Schäflein in regelmäßigen Abständen, aber mit abnehmendem Erfolg zu christlichem Verhalten.

Wir schaffen das

Im Winter 2014/15 hatte sich die Lage bereits deutlich zugespitzt. Juncker und Avramopoulos verschliefen in der Migrationsfrage alles, was man nur verschlafen kann, die Nationalstaaten schauten von dem Problem so weit weg, wie sie nur konnten. Ich war nicht der einzige Beobachter, dem vollkommen klar war, was in den kommenden Monaten geschehen würde.

Der österreichische Aussenminister war zu diesem Zeitpunkt selbst noch ein halbes Kind und seine Vorstellungen von Integration und Migration, wie er sie auf der Webseite seines Ministeriums formulierte, waren einigermaßen kindisch und von mangelnder Erfahrung durchsetzt.

Ich erlaubte mir einen konservativen österreichischen EU Parlamentarier, den ich im Zuge eines Griechenland – Projekts, das wir 2012 realisiert hatten, persönlich kennen und schätzen gelernt hatte, über Twitter zu kontaktieren und meiner tiefen Beunruhigung Ausdruck zu verleihen.

Wenige Minuten später rief er mich zurück und ich erkannte, dass auch er zu tiefst beunruhigt war, wegen der Lage im Allgemeinen und wegen des unentschiedenen und nebulosen Kurses seines Parteifreundes und Aussenministers im Speziellen. Die rechtsradikale FPÖ legte mit ihrer islamophoben Ausländerfeindlichkeit gerade in den Umfragen enorm zu. Er fragte mich, was man meiner Meinung nach nun tun müsste. Ich antwortete, dass wir, die Mitte der Gesellschaft, jetzt dringend jemanden bräuchten, der den Menschen Mut macht anstelle von Angst, der sich hinstellt und sagt: „Wir schaffen das.“ Wenig später entschied sich der Aussenminister für den anderen Weg, er begann Ängste zu schüren, zwei Jahre später wurde er Kanzler.

Zu den Dingen, die Angela Merkel richtig gemacht hat, gehört ihre Politik im Sommer 2015 und ihr Satz „Wir schaffen das“. Sie hat ja auch recht behalten. Wir schaffen es, und wir schaffen es auch jederzeit wieder – solange wir Menschen sein wollen und uns das, was wir unter Kultur und Identität verstehen, uns ein ehrliches Anliegen ist, für das wir einstehen.

Fabian Eder, im November 2019

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