KRITIKEN

KEIN ENTKOMMEN (aus der Reihe „Tatort“)

TV Kritiken

Es ist Krieg

Von Holger Gertz, 04.02.2012

In Wien wird der Kopfschmerz „Schädelweh“ genannt, das passt zum Sound einer Stadt, in der alles abgründiger, schmerzvoller und aussichtsloser ist als anderswo. Der Wiener Chefinspektor Moritz Eisner leidet an Schädelweh, sein Husten ist ein Bellen, sein Niesen ein Peitschenknall. Er trägt eine Wollmütze, die ihm nicht steht. Die Grippe geht um, die ganze Stadt liegt fiebernd im Bett. In Wien bedeutet das: Die ganze Stadt ist gedanklich bereits auf dem Weg hinaus zum Zentralfriedhof. Diese Episode nähert sich also dem Tod einerseits folkloristisch, andererseits mit blanker Entschlossenheit. Serbisch-nationale Kriegsverbrecher machen Jagd auf einen Mann, der früher einer von ihnen war, dann desertierte er, ging nach Wien, jetzt will er auspacken: Mirko Gradic hat in einer Kladde notiert, was er und seine Gefährten damals im Krieg getan haben, wie viele Menschen sie ermordeten, vergewaltigten; für wen sie Gräber ausgehoben haben.Es kommt zu zahlreichen Exekutionen in diesem bemerkenswerten Tatort, Regisseur Fabian Eder lässt Dunkelmänner sterben, aber auch Polizisten und Sicherheitsleute. Der Film ist ein Thriller, stark verdichtet, dabei spinnt er doch vor allem das weiter, was tatsächlich geschehen ist und nach wie vor gärt. Die vielen unerzählten Geschichten aus dem Balkankrieg. Die vielen nicht vergessbaren Bilder. Die Traumatisierten oder vom Krieg Berührten, die es nach Wien verschlagen hat, wo sie Tschuschen genannt werden, das hört sich auch im speziellen Klang dieser Stadt nicht zärtlich an.Harald Krassnitzer (Moritz Eisner) und Adele Neuhauser (Bibi Fellner) sind ein sehr feines Ermittlergespann, beide vom Leben ein paarmal bei 90 Grad durchgewaschen. Jetzt passen sie gut aufeinander auf, denn die Dramaturgie lässt das Warme immer neben dem Kalten existieren. Einmal liest Gradic seinem kleinen Sohn eine Gutenachtgeschichte vor. Sie handelt von Fischen, die wie Menschen sind, sie wagt sich vor an den Kern: „Denn ich bin: Ich weiß nicht wer, schwimme hin und schwimme her. Schwimme her und schwimme hin, möchte wissen, wer ich bin.“

Dieser Tatort erzählt eine große Geschichte, wie alle großen Geschichten handelt sie vom Verlieren und Verlorengehen. Und wie alle großen Geschichten endet sie nicht mit dem Gewinnen oder Gefundenwerden. Am Ende huschen zwei Schatten ins Bild, die schweigend erzählen, dass alles noch abgründiger, schmerzvoller, aussichtsloser werden kann. Nicht nur in Wien.

Süddeutsche Zeitung
Medien, Tatort-Kolumne.

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SPIEGEL ONLINE

„Tatort“ über Kriegsverbrecher

Servus, Karadzic!

Von Christian Buß

Wenn in Wien die serbischen Wölfe heulen: Im neuen „Tatort“ aus Österreich kriegen es Moritz Eisner und Bibi Fellner mit Kriegsverbrechern zu tun. So eisig und so verstörend wie in diesem Völkermord-Krimi kam die Donau-Metropole selten daher. Eigentlich müsste er tot sein. Niedergestreckt aus nächster Nähe durch einen ehemaligen serbischen Elitesoldaten. Doch Mirko Gradic (Christoph Bach) hatte Glück. Die in Wien grassierende Grippewelle erfasst den Lastwagenfahrer, die Auslieferung übernahm ein Kollege, jetzt liegt da der Ersatzfahrer auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums im eigenen Blut. Der Manager des Kommerztempels ereifert sich derweil im widerlichsten Schmäh darüber, dass sie sich doch alle schön untereinander umbringen sollen, die Ausländer, die Studenten und all die anderen Asozialen. Es klirrt vor Kälte in diesem „Tatort“, der Wien von seiner scheußlichsten Seite zeigt. Für den vorerst verschonten Gradic wird es trotzdem nichts mit einem Vormittag im Bett: Der Killer dringt in seine Wohnung ein, Gradic springt im Schlafanzughose aus dem dritten Stock auf ein Autodach, sprintet halbnackt über die Kreuzung, hastet in den U-Bahn-Tunnel, stürmt in die Bahn, steigt am Hauptbahnhof aus, öffnet ein Schließfach und schließt sich mit dem Inhalt auf dem Klo ein: ein Tagebuch, in dem penibel alle Greultaten der serbischen Elite-Einheit „Heilige Tiger“ vermerkt sind, die diese während des Kosovo-Kriegs verübt hat. Die Gefühle in diesem winterlichen „Tatort“ sind eingefroren wie die Straßen, trotzdem ist hier alles in Bewegung. Es gibt keine Ruhe, kein Verstehen. Major Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) schaut mit Grippe-roter Nase und blutunterlaufenen Augen aufs Geschehen, er will zurück ins Bett. Kollegin Bibi Fellner (Adele Neuhauser) sprudelt über vor Energie; seit die Alkoholikerin trocken ist, dimmt nichts mehr ihr Bewusstsein. Ihre neuen Rauschmittel: heiße Zitrone und rohe Knoblauchzehen. Hält die Viren fern, bläst den Kopf durch. Kapieren tut Fellner trotzdem nicht, wer in ihrer Stadt wen bekämpft. Wer hat mehr Leichen in seinem Quartett? Wien sei die „viertgrößte serbische Stadt der Welt“ heißt es einmal im Film; die Verteilungsschlachten, die innerhalb dieser Ethnie toben, bleiben allerdings unübersichtlich: Alte serbische Wölfe treffen hier auf Aussteiger wie Gradic, schon vor Jahrzehnte aus Ex-Jugoslawien ausgewanderte Familien auf junge Neo-Nationalisten. Den Ermittlern schwant das Ausmaß des neuen Falls erst, als auf einmal Vertreter von Interpol in ihrem Büro stehen, um ihnen den Fall abzunehmen. Wer besitzt hier die Kompetenzen? Eisner pocht auf seine Ermittlungshoheit, schließlich gehe es um Mord; die Frau von Interpol sieht sich verantwortlich, man untersuche doch einen Völkermord. Eisner motzt: „Wollen sie jetzt mit mir Quartett spielen? Wer hat mehr Leichen?“ Im Gegensatz zu Hans-Christian Schmids schmerzhaft präzisem Justizdrama „Sturm“, in dem es um die zermürbende Arbeit geht, die eine Anklägerin des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag hat, als sie serbische Kriegsverbrecher zu überführen sucht, bleibt dieser „Tatort“ an der Oberfläche der oft jahre-, wenn nicht gar jahrzehntelangen Ermittlungen in Sachen Völkermord. Am Drehbuch waren vier Autoren beteiligt (unter anderem Lukas Sturm), viele Aspekte des Themas werden nur angerissen, andere zu plakativ in den Vordergrund gestellt. Wer sich mit den serbischen Kriegsverbrechern beschäftigt hat, der wird hier in einer gütig lächelnden Figur mit Vollbart schnell den ehemaligen Serbenführer Radovan Karadzic wiedererkennen, der sich lange durch eine ähnliche Maskerade seinen Verfolgern entzog. Trotzdem gelingt es Regisseur Fabian Eder in diesem gekonnt als klassischen Killer-Thriller inszenierten Politkrimi eine permanente Stimmung der Verunsicherung zu schaffen: Keine Familie, keine Wohnung, keine Festung gibt es in dem vollvereisten Wien dieses „Tatort“, die Schutz bieten könnten vor den Wölfen Serbiens. Der Balkankrieg, hier ist er noch nicht vorbei.

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NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG

Noch nie gab es mehr Leichen als im neuen Krimi aus Wien – Dennoch ein erstklassiger Thriller

Todesrekord im „Tatort“

Osnabrück. Ganz schön krass, Herr Krassnitzer! Der Wiener „Tatort“ mit dem populären Darsteller des Kommissars Moritz Eisner fordert am Sonntag mehr Todesopfer als jeder andere Krimi in der über 40-jährigen Geschichte des ARD-Klassikers. Am Ende werden es 15 Leichen sein. Dennoch ist „Kein Entkommen“ ein ausgezeichneter Thriller.

…Lange ist „Kein Entkommen“ ein relativ normaler und absolut überdurchschnittlicher „Tatort“, dann aber kommt es zum Blutbad. Wobei man dem Film zugutehalten muss, dass er sich niemals an der Darstellung grausamer Gewalt weidet. Nirgends hätte man diese Handlung besser ansiedeln können als in Wien. „Wir sind die viertgrößte serbische Stadt“, sagt der in Österreichs Hauptstadt lebende Fabian Eder im Gespräch mit unserer Zeitung. Er hat bei „Kein Entkommen“ nicht nur Regie geführt, sondern auch zusammen mit Lukas Sturm das Drehbuch geschrieben und zudem noch die Kameraarbeit übernommen – ein höchst seltener „Hattrick“ in der „Tatort“-Geschichte. „Meine Vorlage für diesen Film war Arkan“, berichtet Eder. Der frühere Auftragsmörder habe im Serbien Milosevics eine „unglaubliche Karriere hingelegt“, wurde Freischärler und Anführer der berüchtigten „Arkan Tiger“. Nach dem Balkankrieg wollte er bei Straffreiheit gegen den serbischen Ex-Präsidenten aussagen – und wurde in einem Belgrader Hotel erschossen. In Wien wurde Arkans Mörder gefasst. Regisseur Eder war zunächst gar nicht bewusst, dass er mit „Kein Entkommen“ einen neuen Leichenrekord aufstellen würde, „aber es wurde beim Dreh bereits gemutmaßt“. Und, so räumt er ein, es habe auch Diskussionen mit Produzenten und Schauspielern gegeben, ob man mit diesem Film nicht eine Volksgruppe pauschal verurteile. Doch Eder steht zu seinem Film: „Es mussten so viele Leichen sein. Wo Gewalt unvermittelt ausbricht, fallen Hemmschwellen. Und in diesen Freischärlereinheiten waren sämtliche Hemmschwellen gefallen.“

Eder macht einiges anders als andere „Tatort“-Regisseure. In seinem Film sprechen die Serben Serbisch und werden untertitelt. „Das war für mich eine dramaturgische Notwendigkeit, und ich denke, dass man das den Zuschauern auch zumuten kann.“ Das Publikum werde ohnehin häufig genug unterschätzt, glaubt der Regisseur. … Auch der „Tatort“ lässt die Zuschauer am Sonntag mit keinem schönen Gefühl zurück. Statt des üblichen humorigen Ausklangs gibt es die Gewissheit, dass kurz nach dem Abspann wieder Menschen sterben werden. Harter Stoff, aber höchst sehenswert. Auch wenn es mit ein paar Toten weniger ebenso gut funktioniert hätte. Joachim Schmitz, NOZ

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Frankfurter Allgemeine

„Tatort: Kein Entkommen“

Mach mir meinen Tag

04.02.2012 · Falsche Namen, falsche Lebensläufe, falsche Hoffnungen: Der „Tatort: Kein Entkommen“ dreht sich um die Frage, ob irgendwer der ist, der er vorgibt zu sein – und ist grandios-düsteres Kino.

Von FREDDY LANGER

Dirty Harry ist nicht die Wirklichkeit, sondern Clint Eastwood in der Rolle des Polizisten Harry Callahan: ein Marmorblock von einem Gesicht, in dem sich kein Fältchen rührt und die Pupille nicht zuckt, während er einem Schurken mit Geisel im Arm seine Smith & Wesson an die Stirne hält und ohne die Zähne auseinanderzunehmen, sagt: „Go ahead, make my day.“ Vier Ganoven hat er zuvor bereits kaltblütig erlegt – nein: hingerichtet. Moritz Eisner ist auch nicht die Wirklichkeit, sondern Harald Krassnitzer in der Rolle eines Hauptkommissars im Wiener „Tatort“. Aber er kommt der Wirklichkeit vermutlich erheblich näher als Eastwood in „Sudden Impact“, wenn er seine Dienstwaffe auf einen Serben richtet, der droht, ein Kind zu töten. „Du hast Angst, Scheißangst“ Es wäre immerhin der Zweite, den Eisner in diesem „Tatort“ erschießt, weshalb die Regel, dass Gesetz auch Gesetz bleiben muss, ausgeblendet scheint. Und dann ist alles denkbar, während ein Strahlen über das Gesicht von Krassnitzer zieht, die Augen zu leuchten beginnen, die Zunge über die Lippen fährt, wenn er lächelt, während er dem Gegner die Mündung an den Kopf drückt, Freude empfindet angesichts dieser Macht und als Zeichen seiner Aggression so fest die Zähne zusammenbeißt, dass die Wangenknochen hervortreten, und er mit einem an Wahnsinn grenzenden Grinsen sagt: „Du hast Angst, Scheißangst.“ Und dann lässt er den, der mit seiner paramilitärischen Einheit während des Balkankrieges Tausende von Muslime hingerichtet hat, niederknien zur Exekution. Vordergründig geht es im Tatort „Kein Entkommen“ um Kriegsverbrecher des Balkankrieges, die sich in Wien mit neuen Identitäten niedergelassen haben und die alles dafür tun, nicht entdeckt zu werden. Wirklich alles. Weshalb es in diesem „Tatort“ vermutlich mehr Tote gibt als je zuvor in dieser Serie. Hier stapft die Polizei buchstäblich über Leichen, vor allem über die von Kollegen.

Qualitäten eines Daniel Craig

Tatsächlich aber geht es um die Frage, ob irgendwer der ist, der er vorgibt zu sein. Von falschen Namen, falschen Lebensläufen, falscher Freundlichkeit und falschen Hoffnungen ist es hier nur ein kleiner Schritt zu falscher Rechtsauffassung – und wie soll da ein Kommissar nicht die Nerven verlieren, wenn man ihn Weichei nennt, einen Wichser und ein Serbe von ihm sagt, dass solche wie er bei ihnen im Kindergarten arbeiteten und nicht bei der Polizei. In diesem Milieu hat auf Dauer Krassnitzers Dackelblick nichts mehr verloren. Und dann zeigt ihm auch noch einer der ehemaligen Milizionäre, wie man im Alleingang mit einem ganzen Trupp bestellter Killer fertig wird – und wie man mit knapp und präzise vorgetragenen Angaben eine ganze Polizeidienststelle in Bewegung bringt. Das hat durchaus die Qualitäten eines Daniel Craig.

„Kein Entkommen“ hat viel mit Kino zu tun (Regie und Kamera Fabian Eder). Es ist eine rasant erzählte Geschichte dort, wo die Idee der ethnischen Säuberung auf eine Welt stößt, deren Phantasie nicht ausreicht, sich all die Greueltaten vorzustellen. Und wo es ebenso der Polizei und Interpol wie dem Zuschauer schummrig vor Augen wird, wenn in der Leitstelle immer mehr Fotografien von Leichen und untergetauchten Kriegsverbrechern an der Wand hängen, bis kein Fleckchen mehr frei ist. Und es ist ein wunderbar rühriger Fernsehfilm dann, wenn jede der Figuren ihr eigenes Mittel gegen die grassierende Grippeepidemie preist – aber alle krank sind außer der gar nicht mehr so neuen Assistentin Bibi Fellner (jedes Mal noch besser: Adele Neuhauser), die ihren Patienten reichlich Obstbrand in heißen Zitronensaft gießt. Sie selbst aber verzichtet auf jeden Schnaps, sogar nachdem sie den nicht enden wollenden Kugelhagel aus einer Kalaschnikow überlebt hat und guten Gewissens ihre Wiedergeburt feiern dürfte. Stattdessen sagt sie an einer Stelle nur lakonisch, sie halte das nicht mehr aus. Wir hoffen doch.