Eine kurze Geschichte übers Geschichtenerzählen

Eine kurze Geschichte übers Geschichtenerzählen

In diesem Jahr fiel der 24. Dezember auf einen Dienstag. Der gefährliche Südwind warf hohe Wellen auf, die im Hafenbecken Unruhe stifteten, sogar die großen Schiffe der Küstenwache sprangen wie Nussschalen an der Mole auf und ab. Dunkle Wolken zogen knapp über die Insel hinweg und es schien, als wollten sie den Boden berühren. Immer wieder regnete es kurz, aber heftig. Die winterliche Ruhe, nach der sich die Insel schon seit einigen Wochen sehnte, durfte an diesem Morgen noch immer nicht Einzug halten. In den schleichend anbrechenden Tag hinein starteten Flugzeuge, welche die meisten der rund 250 Flüchtlinge, die sich im Lager Lampedusa befunden hatten, aufs Festland brachten, nach Palermo, Rom und Mailand. Mit den Flüchtlingen hatten auch die Journalisten die Insel verlassen. Zumindest die meisten.
An Fischen war bei diesem Wetter nicht zu denken, und so versammelten sich die vom Wetter gegerbten Männer im Café Porto, wo sie mit ausladenden Gesten diskutierten. Von der plötzlichen Unruhe, die am späteren Vormittag vor dem Lager entstand, bekamen sie noch nichts mit. Was ihnen aber auffiel war, dass der Friedhof der Schiffe, mit denen die Flüchtlinge das Meer überquert hatten und welche an den Küsten zerschellt waren, auf einmal von zwei Soldaten bewacht wurde. Die zertrümmerten Holzboote mit ihren teilweise arabischen Aufschriften lagen keine 100 Meter vom Café Porto entfernt hinter dem rasenlosen Fußballplatz im Schlamm, stumme Zeugen zahlloser Tragödien, die sich nun schon über viele Jahre hindurch wiederholen.
Zur gleichen Zeit verließen zwei Militärfahrzeuge den Parkplatz vor dem Lager. Ein Pkw folgte ihnen die schmale Straße entlang, die nach wenigen hundert Metern die Ortschaft erreichte. Sie fuhren hinunter zum Hafen, vor den jetzt bewachten Schiffswracks hielt der Pkw an, ein Journalist und ein Kameramann stiegen aus, während die beiden Militärfahrzeuge ein Stück weiter vorne wendeten. Als die Kamera lief, kehrten die beiden Militärfahrzeuge zum Schiffsfriedhof zurück. Ein offenbar hochrangiger Offizier stieg aus dem vorderen Fahrzeug aus, salutierte und beglückwünschte die nun Wache haltenden Soldaten. Danach stiegen alle wieder in ihre Fahrzeuge und brausten davon. Wenig später verließen auch die Wachen den Schiffsfriedhof, und alles war wieder so, wie schon die Tage zuvor.

Krisenzeiten sind Zeiten der Angst, und Angst ist ein gleichermaßen reales wie übermächtiges Gefühl. Vielleicht ist sie sogar das stärkste Gefühl, das wir kennen. Da ist die Angst vor dem Fremden, vor dem anderen, Angst, das zu verlieren, was wir haben, Angst vor Veränderung. Aber wollen wir ein Europa, in dem das Gefühl der Angst dominiert?
Im gleichen Augenblick stellen wir fest, dass Solidarität immer dort am stärksten ist, wo die größte Not herrscht, dass Menschen, die weniger haben, eher bereit sind zu teilen als jene, die mehr besitzen.

Das stärkste Gefühl, das man der Angst entgegensetzen kann, ist die Liebe. Das mag im ersten Moment etwas verträumt oder gar romantisch klingen, jedenfalls sind es Adjektive, die in den letzten Jahren in der „Businesswelt“ wenig Anerkennung finden, wenn sie nicht sogar als Zeichen der Schwäche oder gar der Realitätsferne definiert werden. Nichtsdestotrotz sind es gerade diese positiven Gefühle, nach denen sich die Menschen sehnen, weil sie ihnen, im Gegensatz zur Angst, Kraft geben, etwas zu kreieren. Vielleicht müssen wir uns an der Nase nehmen und zugeben, dass in einer Union, die sich nur aus wirtschaftlichen Zielen nährt, für positive, menschliche – ausschließlich menschliche – Gefühle zu wenig oder gar kein Platz war. Wohin ist die Wertschätzung für die Dinge gekommen, die kein Preisschild haben? Wer anerkennt die unermessliche Notwendigkeit leerer, vertrödelter Zeit?

Ich werde nie diesen einen Moment vergessen, als ich im Zuge unseres Projektes „Griechenland blüht“ von dem tiefen Gefühl überwältigt wurde, dass ich mich in meiner Heimat befinde, obwohl ich gerade mitten in der Ägäis unterwegs war. Ich hatte Europa begriffen, schlagartig, von einer Sekunde auf die nächste. Was ich damit sagen möchte, ist, dass Emotionen nur dort zustande kommen, wo man ihnen den Raum gibt, entstehen zu können. Daniel Kehlmann lässt in einem seiner Romane einen erblindeten Maler den Satz sagen: „Alles Wichtige erreicht man in Sprüngen.“
Was ich an diesem Apriltag empfunden habe, war für mich ein großer Sprung. Natürlich hatte diese Emotion eine Vorgeschichte, eine stille Entwicklung, die ich allerdings erst viel später begreifen sollte.
Was war geschehen? Griechenland war in die Krise geschlittert, und quer durch Europa, vor allem aber in den deutschsprachigen Ländern, hat ein regelrechtes Bashing gegen die griechische Bevölkerung eingesetzt. Daran hatten auf nationale Märkte orientierte Medien und nationalistisch agierende Politiker Schuld, die eine schwierige Situation zur Eskalation getrieben haben, um selbst davon zu profitieren. Ausgerechnet in diesem Griechenland bin ich vielen Menschen begegnet, die nicht nur untereinander zu einer großen Solidarität fähig, sondern darüber hinaus auch in der Lage waren, die europäische Solidarität zu formulieren, zu kritisieren, aber auch mit einer positiven Perspektive auszustatten. Die Beschäftigung mit der eigenen Krise hat also dazu geführt, sich selbst im europäischen Kontext zu definieren. Dabei war die Europäische Union leider nicht immer hilfreich, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass viele Griechen eine sehr schlechte, manche sogar eine katastrophale Meinung von der Gemeinschaft haben. Dennoch wage ich die provokante These, dass viele Griechen erst im Zuge der Krise das erste Mal ernsthaft über Europa nachgedacht und ihre Erwartungen formuliert haben. Ich stelle infrage, ob das in der Form in den Ländern, welche von der Krise nicht oder nur wenig betroffen waren, auch in dieser Intensität stattgefunden hat.

„Europa erzählen“ bedeutet, Emotionen zu wecken. Dafür müssen wir bei uns selbst und bei den Menschen den Raum und die Zeit schaffen, damit diese Emotionen entstehen können. Angst ist leicht zu erzeugen, aber es ist eine Herkulesaufgabe, existierende Ängste wieder abzubauen. Wir haben eine Vielzahl von Triggern, die Angst wunderbar transportieren. Dummerweise sind sie die eigentlichen Torpedos, die ein vereintes Europa verhindern, das sich als politische Union der Bürger verstehen will. Es ist immer die Idee, der Gedanke, der zuerst gedacht werden muss, ehe eine Realität entstehen kann. Unsere Aufgabe ist es daher, positive Gedanken zu formulieren und diesen emotional positiv besetzte Taten folgen zu lassen. Denn eines müssen wir verstehen: Das Herz der Menschen lässt sich nicht täuschen.

Was ist die größte Stärke, die Europa hat? Ich meine, es ist seine Vielfalt, die Unterschiedlichkeit der Kulturen, der Menschen, der Sprachen, der Küche, der Musik, der Malerei, der Literatur, der Kunst. Das sind die emotionalen Kanäle, über die wir einander erreichen können. An diesem Punkt, und das ist wichtig zu verstehen, verändert sich die Kommunikation von einer vertikalen, medien- und politikgesteuerten Informationskette zu einer horizontalen Ebene der Begegnung auf Augenhöhe, bei der es nicht nur um das Mitteilen, sondern vielmehr noch um das Zuhören geht. Imagekampagnen, die von großen Werbeagenturen entworfen und umgesetzt werden, können dies nicht erfüllen, weil sie wiederum nur in eine Richtung, nämlich von oben nach unten funktionieren. Sie teilen den Menschen mit, was sie fühlen sollen! Das funktioniert vielleicht beim Verkauf von Waschmitteln oder Automobilen, glücklicherweise funktioniert es nicht bei politischen und gesellschaftlichen Anliegen.

Sehen wir die Krise als Chance! Das Einzige, was Europa bislang emotional verbunden hat, das gemeinsame Geld, ist in große Schwierigkeiten geraten und hat dadurch zu einer Identitätskrise Europas geführt. Wir lernen also daraus, dass wir uns nicht nur auf finanzielle und wirtschaftliche Komponenten bei der Vereinigung Europas stützen dürfen, so wichtig diese Elemente auch sind. Der Vorteil einer Krise ist, dass sie grundsätzlich schon ein dramaturgisches Element darstellt, bezeichnet sie doch den Wendepunkt in einer gefährlichen Entwicklung. Gelingt es uns also, diese Wende herbeizuführen, wird Europa als Held auferstehen. Gelingt uns das aber nicht, wird die Union in einer Katastrophe zerschellen. Was wie die Dramaturgie eines großen Epos anmutet, braucht jedoch viele kleine Teile. Womit wir wieder bei der größten Stärke unseres Kontinents wären: der Vielfalt.

Wir müssen versuchen, einander die kleinen Dinge, die unser Leben ausmachen, begreiflich zu machen, denn nur so können wir einander verstehen. Wir dürfen keine Scheu haben, diese kleinen Dinge herzuzeigen, denn die gemeinsame, europäische Identität wird, wie die gemeinsame Kultur, aus der Vielfalt und Individualität der einzelnen Regionen und ihrer Bewohner bestehen. Zugleich müssen wir lernen, uns diese kleinen Geschichten auch erzählen zu lassen, zuzuhören und vor allem auf eine unmittelbare Bewertung zu verzichten. Ein finnischer Kalakukko ist nicht mehr oder weniger wert als ein griechisches Gamopilafo – er schmeckt nur anders.

All das hat uns dazu veranlasst, die Plattform „Europa blüht“ ins Leben zu rufen. Unser Ziel ist es, dort möglichst viele, kleine, unterschiedliche Geschichten über Europa zu erzählen und erzählen zu lassen, wobei aufgrund der aktuellen Situation unser Hauptaugenmerk darauf liegt, die Trennung von Norden und Süden zu überwinden. So wie wir bei unserem ersten Projekt nach Griechenland und jüngst nach Malta, Lampedusa und Sizilien gefahren sind, versuchen wir, Künstler aus anderen europäischen Ländern dazu zu animieren, Geschichten über Regionen zu erzählen, also diese von außen zu betrachten. In einer Art Pingpong sollen beispielsweise Spanier nach Litauen, Finnen nach Zypern usw. fahren. Wie sehen wir einander? Wie stellen wir uns selbst dar? Welche Dinge unterscheiden uns und was verbindet uns?

Im vergangenen Dezember sind wir für unser Projekt „No Island / Keine Insel“ unter anderem nach Lampedusa gereist. Knapp vor unserer Abreise wurden wir von einer Bewohnerin der Insel zum Abendessen eingeladen. Auf meinen Wunsch hin bereitete sie ein für diese Insel und diese Jahreszeit typisches Gericht für uns zu, eine Pasta Busata.
Dabei werden die selbst gemachten Nudeln, die um ein dünnes Rundholz gedreht zu Spiralkringeln geformt werden, mit einer Sauce serviert, die aus Pinienkernen, wildem Fenchel und luftgetrocknetem, in Salz eingelegtem Fisch zubereitet wird. Zum Schluss hat Paola alles mit angerösteten Brotkrumen bestreut und serviert.
Während sie in der kleinen Küche arbeitete, hat Paola von ihrem Leben, von der Insel und den Menschen erzählt. Ihr Haus steht in einem wunderschönen Garten, der in einer kleinen Senke in der Mitte der Insel liegt, und von Kakteen umgeben ist. Der wilde Fenchel wächst rund um den zum bescheidenen Wohnhäuschen umgebauten Stall. Das Wetter ist zu schlecht, um frischen Fisch zu fangen, weshalb der selbst konservierte verwendet wird, erzählt Paola. Den teuren Parmesan aus dem Norden können sich die Inselbewohner nicht leisten. Daher ersetzen sie ihn mit in Olivenöl angebratenen Brotkrümeln.
Die ganze Insel lebt von zweieinhalb Monaten Urlaubssaison und Fischfang. Die viereinhalbtausend Bewohner müssen für über zweitausend Uniformierte Platz schaffen, welche auf einer angeblich humanitären Mission Europa in eine Festung verwandeln. Die Bossi-Fini-Gesetze aus dem Jahr 2002 kriminalisieren Fischer, die in Seenot Geratene retten. Diese Gesetze sind nach all den Katastrophen noch immer in Kraft. Doch einer dieser Fischer lacht und sagt: „Was scheren mich diese Gesetze? Wenn einer in Not ist, dann helfe ich ihm. Das ist unser Gesetz.“ Pasta Busata ist ein einfaches Essen einfacher, wenig wohlhabender Menschen, die das Herz am rechten Fleck tragen.

Fabian Eder, Jänner 2014

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