Das Märchen vom guten Österreicher
Wir überblickten die Hügel, die den kleinen Ort zu unseren Füßen umgaben. Gerade Kanten, saubere graue Steinflächen und ein in weißen Marmor gehauenes Relief, an dessen Ende sich ein kleines, quaderförmiges Gebäude befand. Und die einzige Tür an diesem Ort. Es war der 16. Juni, ein wolkenloser Montag.
Zwei Jahre zuvor, im Frühling 2012, hatte die Krise ihren Höhepunkt erreicht und Griechenland war mit mehr als nur einem Bein im Abgrund gestanden. In Mitteleuropa herrschte die Meinung, dass überall Streiks und Demonstrationen stattfänden und an jeder Ecke deutsche Fahnen brennen würden, ein unsicheres Land, der Tourismus brach ein, Folge eines Irrglaubens, weiterer Schlag ins Genick eines Landes, das dabei war, eine ganze Generation zu verlieren: 50% Jugendarbeitslosigkeit. Der griechische Boulevard zeigte Merkel mit Hitlerbart und Nazibinde, während deutschsprachige Politiker im Einklang mit der Presse das Wort „Grexit“ erfanden. Wir begaben uns damals spontan auf eine Reise durch Griechenland, mit Kameras bewaffnet, ohne Auftrag, ohne Geld, um Solidarität zu bekunden und gegen diesen Krieg der Worte, diesen Krieg der Bilder anzutreten, der nicht nur ein ganzes Land, sondern vor allem seine Bewohner entwürdigte und dessen Ziel es war, den Ansatz einer politischen Einigung Europas dauerhaft zurück in die Schranken nationaler Grenzen zu weisen und damit zu unterbinden. Vier Monate später präsentierten wir das Resultat dieser Reise, den Film GRIECHENLAND BLÜHT, vor rund zweihundert Abgeordneten im Europäischen Parlament, gefolgt von einer Vielzahl an Vorführungen und Diskussionen in Deutschland, Österreich und Griechenland, die allesamt immer auf die gleiche Frage hinausliefen: Was erwarten wir, die Bürger, von einer Europäischen Union?
Eine dieser Einladungen führte uns an die Deutschen Schule in Athen (DSA). Die Lehrerin Regina Wiesinger betreibt dort zusammen mit ihren Kollegen seit vielen Jahren ein Unterfangen, bei welchem Schüler der DSA mit Schülern aus Distomo und Kalavryta, zwei jener zahlreichen Opfergemeinden der Deutschen Wehrmacht, gemeinsame Projekte realisieren, welche die Vergangenheit thematisieren und damit das Fundament für eine gemeinsame friedliche Zukunft legen. Aufgrund der in der „Krise“ neu aufgekeimten Spannungen zwischen Deutschland und Griechenland passte da unser Film, der schließlich von den immerwährend neutralen „Guten Österreichern“ gemacht worden war, hervorragend ins Programm.
Nach der Vorführung an der DSA kam ein Schüler aus Distomo auf uns zu und schlug vor, dass wir den Film unbedingt in seinem Dorf vorführen sollten, damit die Eltern und Großeltern der Jugendlichen ihn ebenfalls sehen könnten. Ein knappes Jahr später hatten wir dank vieler Unterstützer eine griechische Sprachversion hergestellt, die auch jener Altersgruppe den Zugang zu unserem Film ermöglichte, der im Grunde nichts anderes tat, als einen respekt- und liebevollen Blick auf die Menschen zu werfen. Wir benachrichtigten Regina Wiesinger und mithilfe der Österreichischen Botschaft in Athen präsentierten wir am Abend des 15. Juni 2014 den Film in Distomo.
Am nächsten Morgen wurden wir zunächst zum Museum im Dorf geführt, in dem die schwarz-weißen Bilder der meisten Opfer des Massakers, einfache Menschen, Zivilisten, zu sehen sind. Unsere Gastgeber bemerkten unsere Niedergeschlagenheit und erzählten uns das Märchen vom Guten Österreicher:
Um den Tod von einigen Kameraden zu rächen, die bei Gefechten mit Partisanen ums Leben gekommen waren, drang am 10. Juni 1944 eine Truppe der Deutschen Wehrmacht ins Dorf ein. Erst trieben sie die Menschen in ihre Häuser, dann gingen die Soldaten von Tür zu Tür und erschossen und erschlugen der Reihe nach alle. Den werdenden Müttern schnitten sie bei lebendigem Leib die Föten aus den Bäuchen, das Letzte, was sie vor ihrem Tod sehen sollten, waren ihre ermordeten Ungeborenen. War der Befehl ausgeführt, wurde ein Kreuz neben die Tür des „gesäuberten“ Hauses gemalt. Glücklicherweise befanden sich auch einige Österreicher unter den Soldaten, welche den Menschen in den ihnen zugeteilten Häusern bedeutet haben sollen, still zu bleiben, ehe sie gegen die Decke schossen, was draußen gut zu hören war. Dann haben sie brav das Kreuz neben die Tür gemacht und so wenigstens ein paar Leben gerettet.
Ja, ja, und in Kalavryta trug sich eine ähnliche Geschichte zu: Die Wehrmacht hatte Frauen und Kinder in der Schule zusammengetrieben und eingesperrt, während die Soldaten alle männlichen Bewohner des Dorfes, die älter als 12 Jahre waren, auf den Hügel getrieben hatten, um sie dort von hinten zu exekutieren. Die Schule wurde unterdessen angezündet, und als das Gebäude lichterloh in Flammen stand, hat ein österreichischer Wehrmachtssoldat unbemerkt eine Hintertür eingetreten und so zumindest einigen Frauen und Kindern das Leben gerettet.
Anschließend brachte man uns zur Gedenkstätte auf den Hügel oberhalb des Ortes. Grauer Stein, ein kleiner, quaderförmiger Bau, diese einzige Tür, dahinter eine enge Krypta.
Anstelle unserer Eltern und Großeltern blickten wir hilflos betroffen auf die eingeschossenen Schädel der Opfer jenes Massakers, das die Deutsche Wehrmacht 70 Jahre und sechs Tage zuvor hier angerichtet hatte und für das ein „Das verstehst du nicht, es war halt Krieg.“ oder „Wir mussten alle unsere Befehle ausführen.“ ebenso jämmerliche wie dumme Ausreden waren und sind. Ein Foto von jenem Junitag zeigt Wehrmachtssoldaten, die auf dem Hauptplatz von Distomo stehen, Gewehre und Äxte geschultert, lachende Gesichter, manche rauchen, Flammen und Rauch schlagen aus Häusern, die Sonne steht steil, was die Köpfe der Protagonisten auf dem alten Schwarz-Weiß-Bild zu beängstigenden Wesen aus einer Schattenwelt werden lässt. Untote. Unlebendige. Unmenschen. Deutsche. Österreicher. Großväter.
Zwei Wochen nach dem Schlachten von Distomo ereignete sich ein nahezu deckungsgleicher Vorfall in Italien. Das Handelsblatt zitiert aus der Rede des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, die er bei seinem Besuch anlässlich der Gedenkfeier Ende Juni im kleinen Dorf Civitella hielt:
„Wir Deutsche wissen, welche Verantwortung wir bis heute für die Gräueltaten unserer Landsleute tragen“, sagte Steinmeier und bat um Verzeihung „für das Unverzeihliche“. Die große Schuld, die Deutschland im Zweiten Weltkrieg auch in Italien auf sich geladen habe, dürfe nicht verdrängt und vergessen werden …
Wir Österreicher wissen hingegen nichts von unserer Verantwortung. Antisemitismus, Rassismus und Deutschnationalismus sind in Österreich feste Bestandteile des politischen und gesellschaftlichen Establishments und nicht selten parteiübergreifender Konsens. Absichtlich und genau gewählte Worte werden als Ausrutscher wohlwollend entschuldigt, beschwichtigt, relativiert. Auch und gerade von den Leitmedien. Der Gute Österreicher ist es schließlich gewohnt immer das erste Opfer zu sein.
Es gibt natürlich keinen historischen Beleg für das Märchen vom Guten Österreicher während der Massaker. Warum dann das Märchen erzählt wird? Weil ihm nicht widersprochen wird. Dass aber gerade die nationalsozialistische Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) der große politische Profiteur der Krise ist, scheint in diesem Kontext absurd. Von 0,3% startend hat sie es über Nacht auf über 12% geschafft und sitzt seither im griechischen Parlament. Mit rationalen Argumenten ist das nicht erklärbar, aber es ist keine neue Erkenntnis, dass Krise und Nationalismus einander beflügeln – und bedingen. Das Durchbrechen dieser Spirale ist unsere Aufgabe.
Fabian Eder, Juli 2014, für das Länderheft „Griechenland und Europa – drinnen oder draußen?“ , herausgegeben vom Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM).
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